Die Sage vom Untergang der Stadt Ramm

Weit hinten, in der griesesten Ecke von der „Griesen Gegend“, da wo Fuchs und Hase sich „Gute Nacht“ sagen, liegt in Sand und Tannen das kleine Dörfchen Ramm.

In vergangenen Zeiten sah es in dieser Gegend ganz anders aus: Ramm war eine große Stadt, und den Einwohnern ging es sehr gut.

Viehzucht, Ackerbürgerei, Handel und Handwerk blühten; denn der fette Lehmacker und die saftigen Wiesen trugen schweres Korn und kniehohes Gras. So wurden die fleißigen Einwohner bald reiche Leute. Aber das konnten sie auf die Dauer nicht ertragen. Weil sie nicht mehr zu arbeiten brauchten, verfielen sie auf allerhand dummes Zeug, und bald war die ganze Umgebung voll von dem Gerede über den bösartigen und lasterhaften Lebenswandel in der großen Stadt Ramm.
Doch: Der Krug geht solange zum Wasser, bis er bricht.

Eines Tages – es war im Mai, und das Gras in den fetten Wiesen stand saftig und grün – sollten wieder einmal, wie das in jedem Jahr so üblich war, die Bullen ihre Kräfte messen.

Das war für die Rammer immer ein großes Fest, und klein und groß, alt und jung, alle hatten sie ein unbändiges Verlangen nach dem Viehaustreiben. Der Maitag kam heran, und herdenweise zog das Vieh nach draußen. Aber, was war denn das? Die Bullen griffen sich gar nicht an! Ruhig und zufrieden, wie alle Kühe, fingen sie an zu grasen und dachten nicht an Streit und Lärm.
Das ging den Rammern doch: „über Kreide und Rotstein“. Wochenlang hatten sie sich alle auf den Bullenkrieg, auf das Bullenblut, das fließen sollte, gefreut, und nun taten die Tiere, als wenn sie die zahmsten Schafe wären.

Karl Langbein, der größte Schlachter in der Stadt, hing sich ein rotes Laken um und rückte mit seinem großen Messer einem von den Bullen zu Leibe. Aber der ließ sich nicht aufreizen. Er sah den Schlachter an, zog die frische Mailuft durch die Nüstern und steckte dann sein Maul wieder in das saftige Gras.
Da aber kamen die Rammer vollkommen „aus Rand und Band“! Sie packten einen von den Bullen, und dann zogen sie ihm bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren. Nun hatten die Rammer ihr Bullenblut, und sie sollten auch noch ihre Freude an dem Bullenkrieg haben.
Im Handumdrehen nämlich hatte der vor Schmerz rasende Bulle alle seine Gegner umgebracht, und als er keinen mehr fand, brüllte er so fürchterlich, daß alles andere Vieh den Ställen zulief.
Voller Entsetzen rannten jetzt die Rammer Bürger ihrem Vieh nach. Aber nun schien der Bulle sich die Sache zu überlegen. Er wurde ganz still, drehte sich um und verließ das Rammer Stadtgebiet.

Da aber faßte der Bürgermeister, dem das Herz erst auch „in die Hosen gerutscht war“ neuen Mut. „Seht einmal, wie der rote Satan laufen kann“, lachte das vollgefressene Stadtoberhaupt, daß ihm der Bauch wackelte. Aber die Rammer hatten sich getäuscht. Die Abrechnung des Bullen mit der Stadt Ramm stand noch bevor.

Am Rande der saftigen Wiesen, dort wo der sandige Boden begann, brüllte er noch einmal ganz durchdringend auf, daß den Einwohnern angst und bange wurde. Dabei stampfte er mit den Beinen und kratzte brunnentiefe Löcher in den losen Sand. Richtige Berge wuchsen aus der Erde, und noch immer kratzte und wühlte das Tier mit Kopf und Beinen. Haushoch flog der leichte, magere Sand, und der trockene Ostwind trug ihn über Ramm und die ganze Umgebung. Bis Lübtheen, Jabel und Quast staubte der Sand, und der Bulle ließ nicht nach, bis auch die höchsten Häuser und die letzten Menschen in Ramm unter dem Sande begraben waren.

Dann aber brach seine Kraft. Tot fiel er in das tiefe Grab, das er sich selbst gegraben hatte, und der Ostwind deckte auch ihn mit Sand zu.

Heute liegt dort still und verlassen auf fliegendem Sande das kleine Dörfchen Ramm in der „Griesen Gegend“. Mageres Schnittgras und genügsame Tannen schauen in den regenschweren Himmel, und arbeitsame Menschen wirken tagein tagaus um Brot und Leben.

Die Krähen und der Ostwind aber erzählen sich dann und wann an warmen Maitagen in den hohen Tannen von der großen Stadt Ramm, die dem kleinen Dorf zu ihren Füßen den Namen gegeben hat.

Erzählt von Richard Giese, Warlow

aus: Heimatzeitschrift „Land und Leute“ 1956

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